Freitag, 18. April 2014

Neuerscheinung: «Vier Theaterstücke über Deutschland und Russland» von Ilja Tschlaki




Neuerscheinung: 
«Vier Theaterstücke über Deutschland und Russland» von Ilja Tschlaki

Über Seelen, die den tiefen
Abgrund nicht fürchten


BERLIN/STEIN AM RHEIN Ilja Tschlaki, ein Vollblutdramaturg mit georgischer Abstammung, war im Jahr 2009 Gast im Steiner Künstler-Atelier «Chretzeturm». In dieser Zeit  sind vier Theaterstücke seiner Seele entsprungen, welche 2014 von Gustav  Neuthinger ins Deutsche übersetzt worden sind.


                                          


Wer die Nase von den Schönwetterdramen voll hat, wer ausgeflippte Animositäten verabscheut, und wem das solide bürgerliche Dasein aus dem Hals raushängt, der sollte sich die vier Theaterstücke von Ilja Tschlaki zu Gemüte führen. Es erwartet den Leser: Existenzelle Dramatik, gepaart mit einer grossen Prise schwarzem Humor, serviert als gebrochene Biographien, ohne einen leisesten Schimmer von Hoffnung auf ein besseres Morgen.  

Ein Gefälle, das nicht aufzuhalten und kaum auszuhalten ist. Kein Fatalismus. Keine Fremdbestimmung. Kein Unfall. Das sind Resultate des täglichen Wahnsinns, die nicht unter den Teppich gekehrt werden. Ehrlich zugegeben. Ohne Blume. Nur, wer hält das aus? 

Entsprungen der Dreistigkeit

Diese vier Geschichten («Orkan», «Und unsere Asche streut man über die Erde», «Fremde oder der Alptraum», «Das Licht des Mondes») sind ein Universum, das der Dreistigkeit, einem unverschämten Glauben, dass der Gott nur anderen strafft und man selber ungeschoren davon kommt, entsprungen ist. Genau hier setzt der Dramaturg einen Schnitt. Er nimmt diese falsche Sicherheit, seziert die Seele und zwingt  die Abgründe sich aufzurichten. Abgründe, die keiner weder bei sich, noch bei den anderen zu vermuten wagt. 

«Orkan»

heisst das erste Theaterstück. Eine Frau und zwei Männer leben im übergrossen Mülleimer des Hauses und ernähren sich von Überresten die aus dem Müllschlucker kommen. Einmal pro Woche sucht die Stadt ein Orkan auf. Wer zu wenig gegessen hat, kommt dabei um. Antoscha: «Das ist nun wirklich die Höhe! Hast du das gehört, Kir? Sie hatte eine Bräutigam!...

Wieso hast du dann nicht deine Jungfräulichkeit für ihn bewahrt?... Ihr macht mich heute ganz verrückt. Die eine hatte einen Bräutigam. Beim anderen wurde nicht geflucht. Offenbar bin nur ich in der Scheisse geboren und werde in ihr auch sterben müssen. Bravo!... Das habt ihr euch gut ausgedacht.»

«Und unsere Asche streut man über die Erde» 

- ein Jude und ein Nazi im Altersheim haben nicht nur «das Recht gemeinsam zu krepieren», sondern auch einen Rollenwechsel einzunehmen um das Verdrängte noch schmerzhafter auferstehen zu lassen, als es ohnehin schon präsent ist.  

«Fremde oder der Alptraum»

passt perfekt in die heutige Zeit der modernen-(un-)freiwilligen Völkerwanderung und der panischen Angst der Einheimischen vor allem was fremd erscheint. Renate, eine 42jährige Mutter macht sich grosse Sorgen um ihren Sohn, den Fred, der plötzlich einen Akzent hat: «Ach schert euch doch zum Teufen! Er spricht mit Akzent! Mit einem Akzent! Und von Tag zu Tag wird es schlimmer!» 

Sie macht sich Sorgen, ruft Familienrat zusammen und ahnt das böse Ende nicht. Plötzlich, je länger darüber diskutiert wird, scheinen alle Familienmitglieder ein  Akzent zu bekommen. Eine ansteckende Krankheit!  Der Kaffee wird kalt und der Kuchen ruht vor sich hin. Renate dreht durch: «Wo bin ich?! Was ist mit mir?! Was ist mit diesem Haus los?! Ihr schweigt?! Hier schwiegt man sogar mit Akzent!» 

«Das Licht des Mondes» 

zerfetzt alle Hürden des Lebens buchstäblich in der Luft. Ein Mann und eine Frau. Sie trinken, schlagen, würgen einander und lieben sich auf dem Boden. Danach reden sie über die Kindheit, gebrochene Seelen, Löwenkater namens Eigelbchen und tanzen. Und in der Küche strömt das Gas…

Regionen des Hirns überhitzen

Iljas Stücke sind frei von falschem Aktivismus. Es empfiehlt sich nicht, alle vier Stücke nach einander zu lesen, denn sämtliche Regionen des Hirns überhitzen bereits beim ersten. Alles geschieht im Kopf des Lesers, die Brüche sind durch Schweigepausen verstärkt. Ja, die Zeit wird einem gelassen, um verfolgen zu können, wie die Absurdität im Lupentempo in eine majestätische Grösse einnimmt. 

Die Bilder sind stark, sofort präsent. Sie sind wie scharfe Kanten des Hagels, sie berühren jede ungeschützte Stelle mit eiskaltem Kuss der Hoffnungslosigkeit. Das ist Ilja. Entweder mag man seine Stücke, oder man mag sie eben nicht. In seiner Art ist der Dramaturg menschlich zugänglich, frei von ausgeflippten Animositäten, frei von jeglicher Voreingenommenheit. Er strahlt eine Offenheit aus, welche nicht nur ihn, sondern auch seine Stücke authentisch und anspruchsvoll macht.

1959 in Moskau geboren ist der Dramatiker Ilja Tschlaki 1991 nach Deutschland emigriert und wohnt und arbeitet seither in Berlin. Seine Werke verfasst er in russischer Sprache. Die Theaterstücke wurden in andere Sprachen übersetzt und werden vor allem in Russland und Osteuropa, aber auch in den USA und Deutschland aufgeführt. Ilja Tschlaki ist Gewinner verschiedener Literaturpreise und seit 1992 Ehrenbürger von Waterford, Connecticut.


Jurga Wüger
© Text und Fotos von Jurga Wüger





















Vier Theaterstücke 
über Deutschland und Russland 
von Ilja Tschlaki,
ins Deutsche übersetzt 
von Gustav Neuthinger. 
176 Seiten 
ISBN 978-3-944502-37-3

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